Bekleiden
Wer viel und bei jeder Gelegenheit draußen sein möchte, zieht sich anders an und verändert seinen Blick auf Kleidung. Ich denke nicht, dass es bloß daran liegt, dass die ästhetischen Qualitäten der Kleidung gegenüber den funktionalen in den Hintergrund treten. Sie gehen, glaube ich, eher eine neue Verbindung ein und die Schönheit des Materials tritt dem Träger deutlicher zu Tage.

Es gibt ja dieses Sprichwort, wonach es kein schlechtes Wetter gäbe und natürlich ist da etwas dran. Meine Vorstellung davon, was passende oder gute Kleidung ist, hat sich verändert, als wir in Schottland wohnten. Die Landschaften, die Luft und das Licht zogen erst nach draußen und dann weiter zum Horizont. Aber wenn man den Wind und den Regen nicht nur im Gesicht, sondern gleich am ganzen Körper spürt und die Kälte einem sofort bis unter die Haut fährt, ist man sehr schnell wieder am Wagen oder im Pub, mindestens in Gedanken. Gewöhnung spielt gewiss eine Rolle und natürlich, wie der eigene Organismus auf die Elemente reagiert. Aber bei unseren Besuchern vom Kontinent, die trotz unserer Empfehlungen glaubten, im Juni auf Wollpullover und Anorak verzichten zu können haben wir gemerkt: die Kleidung ist letztlich entscheidend ob man mit glühenden Wagen und strahlenden Augen oder verstimmt und verspannt von den Hügeln herunterkommt. Dann ist kein Whisky stark genug und der Kamin muss schon länger brennen, um die Laune noch zu heben. Wir haben die Daunenwesten, die Wolltroyer, die Tweedjacken, die Kaschmirmützen, die Softshellhandschuhe, die Gummistiefel, die Flannelhemden, die Wachskapuzen und die dicken Socken so richtig schätzen gelernt. Nicht selten alle gleichzeitig, manchmal auch im Juni. Sie haben uns ermöglicht, bei großartigen Naturschauspielen mittendrin zu sein. Einmal skypten wir im Juni oder Juli abends mit meinem Bruder und seiner Familie, die damals in Madrid wohnten. Sie fragten was los sei, weil wir alle drei in Wollpullovern auf dem Sofa saßen (den brennenden Kamin hinter dem Laptop sahen sie nicht), während sie in Poloshirt und Spaghettiträgern noch nichtmal die Fensterläden geöffnet hatten, um die Tageshitze noch draußen zu lassen. Wir dagegen waren tagsüber am Meer gewesen und hatten uns einen leichten Sonnenbrand eingefangen, aber nach sechs Uhr war es schon frisch geworden. Mir gefiel es, drei, vier Jahreszeiten an einem Tag zu haben. Sommer bedeutete, dass es abends nicht dunkel wurde und nicht etwa das es besonders warm war. Eine Ladenbesitzerin erklärte mir einmal, das fast die halbe Welt versucht, im Sommer mit Klimaanlagen künstliche 18 Grad in Gebäuden herzustellen, während man dafür in Schottland bloß ein Fenster aufmachen oder vor die Tür treten muss. Zum Picknick konnte man sich das ganze Jahr über verabreden. Die Sonne kam jeden Tag mal raus und ungemütlich konnte es das ganze Jahr über werden. Wer deswegen nicht rausgeht, der verpasst das Leben. Aber kleidungstechnisch muss man natürlich vorbereitet sein.

Interessanterweise habe ich mich in Schottland von meiner Gore-Tex-Jacke entfremdet und insgesamt hat die Funktionskleidung, wenn man darunter high-end Produkte mit Membranen und Beschichtungen versteht, in meinem Kleiderschrank abgenommen. Und im schottischen Straßenbild und selbst auf den Spazierwegen sieht man sie auch weniger, als in einer deutschen Einkaufsstraße. Vielleicht liegt es daran, dass man nicht permanent daran erinnert werden möchte, eigentlich im Alltag ständig meterologischen Extremsituationen ausgesetzt zu sein (sieht man von Temperaturamplituden ab) oder daran, das synthetische Outdoorkleidung nicht lange tut was sie soll, wenn sie im ständigen Einsatz ist.
In jedem Fall habe ich Wolle entdeckt, viele Schichten zu tragen, einige Körperteile besonders und immer warm zu halten und gelernt, dass es nicht notwendig eine Katastrophe ist, nass zu werden. (Hierzu später mehr). Seitdem ich mich, zurück auf dem Kontinent und stets sehnsüchtig nach Natur und freiem Himmel, auf Wildniswanderungen, Trekkingtouren und Mikroabenteuern umtue und neugierig das Wissen der erfahrenen Freigeister aufsauge, sehe ich diesen Trend hin zu natürlichen Stoffen bestätigt. Daune ist ethisch fragwürdig und wärmt nicht bei Nässe. Ihr Einsatz ist daher nicht unproblematisch. Wolle dagegen wärmt auch noch, wenn sie nass ist. Sie riecht längst nicht so unangenehm wenn man sie länger trägt wie synthetische Funktionsshirts, ist viel unempfindlicher bei Funkenflug aus dem Lagerfeuer als Polyesterfleece und manche Wollsorten kühlen bei Wärme, wärmen aber bei Kälte. Mehr würde man von funktionalem high-tech auch nicht erwarten. Der Nachteil ist natürlich, dass Wolle oft schwerer ist, aber oft wiegen die anderen Vorteile dies mehr als auf.
Merinosocken mit dicker, fast filzartiger Struktur sind eine Revolution. Warme Füße auch bei leichter Nässe, zumindest so lange man sich etwas bewegt und selbst im kontinentalen Sommer nie zu heiß. Sie sind extrem gut gegen Blasen selbst auf Wanderungen mit neuen Schuhen. Wichtig ist nur, sie vor dem Schlafengehen in kühlen Nächten entweder gegen trockene Socken zu tauschen, sonst bekommt man in der Nacht kalte Füße oder am Feuer die Feuchtigkeit verdampfen zu lassen. Hier zahlt sich die Unempflindlichkeit der Wolle gegen Funken aus. Schlüpft man mehrmals mit den vom Feuer erwärmten und getrockneten Socken wieder in die Wanderschuhe, kann man in kurzer Zeit die Nässe aus den Schuhen herausbefördern. Schuhe hingegen vertragen die Nähe zum Feuer gar nicht, sie verziehen sich oder der Kleber löst sich von der Hitze auf und im schlimmsten Fall fällt davon die Sohle ab, was nicht nur in den Highlands unangenehm wird.
Fantastisch sind auch Hemden aus Wolle und Longsleeves mit Merino. Sie moderieren die Unterschiede von Temperatur und Feuchtigkeit zwischen menschlichem Körper und Umwelt elegant und ohne Stau. Merkt man, dass man ins Schwitzen kommt zieht man wenn möglich eine Schicht aus, wird es kälter, kommt wieder eine drüber. Leichter Niederschlag perlt an Wolle ab und auch ein stärkerer Regen ist meist nicht schlimm, da Wolle wie gesagt weiter wärmt. Kommt man nass zur Ruhe, ist Wechselkleidung Gold wert, sonst muss ein Feuer her, an dem sie schnell trocknet.

Die Macht des Feuers und seiner Bedeutung für das Draußensein habe ich auf einer Wildniswanderung in Norwegen erfahren. Am zweiten Tag waren wir über mehrere Stunden einem enormen Regen ausgesetzt. Der sich drehende Wind sorgte dafür, das wir gründlich von allen Seiten nass wurden. Einer Teilnehmerin wehte es die Regenhülle vom Rucksack, die in wenigen Sekunden hinter einer Hügelkuppe verschwand. Bei einem Abstieg hatte sich der sumpfige Boden soweit mit Wasser vollgesogen, dass mit jedem Tritt die Schuhe bis zur Wade versanken, bis auch die letzte Membran ihre Schoten öffnete. Ich ertappte mich dabei, wie meine Gedanken immer wieder zur Berghütte, dem Pub mit Kamin und dem Auto mit Heizung kreisten, von denen keines auf uns am Abend warten würde. Wie das werden sollte war mir unvorstellbar zumal ich bei einem Check feststellte, dass auch mein Schlafsack nass geworden war. Die Stimmung war nicht besonders, als wir uns in einem losen Wäldchen bei anhaltendem Regen auf die Suche nach einem gemütlichen Nachtlager machten, das ein Tarp überspannen würde.
Unter einer riesigen, mit Kiefernästen mehrere Meter hoch gespannten Plasteplane konnten wir, nachdem die Tarps die klammen Sachen vor einer weiteren Einnässung bewahrten, mittels Birkenrinde und Fichtentotholz ein Feuer machen. Am Dreibein hing bald ein Topf, der uns warmes Essen und anschließend heiße Getränke bescherte und die Feuerhitze von der gespannten Plane abhielt, unter der wir im Kreis saßen. Mit dem Dampf aus der trocknenden Kleidung stieg auch die Stimmung in der Gruppe. Als es mir gelang, auch den Schlafsack zu trocknen und ich mit einer Thermoskanne Birkentee unter mein Tarp kroch, da erfüllte mich ein Gefühl tiefer Dankbarkeit für diese Feuerwende und eine noch leise Ahnung eines gesunden Fatalismus gegenüber den Elementen. Gegen dieses Wetter war keine Membran oder Beschichtung gewachsen, in die man sich einschließen könnte um trocken zu bleiben.

Aber es gab sehr alte Techniken, wie man dem Sonnenschein nach dem Regen auf die Sprünge half. Und gute Kleidung, die nie ganz aus dem Gleichgewicht kam. Ein paar Tage später nach einem absurden Seitenregen während einer Wanderung an einem Kamm entlang, bei dem unsere rechten Hälften durchnässt wurde, während die linken vollständig trocken blieben, kam mir eine neue Erkenntnis. Berghütte, Kaminpub und Faradayauto waren ebenso wie Gore-Tex und Sturmzelt in den Breiten in denen ich mich bewegte in der zivilisierten Einstellung verhaftet, der Natur Raum abzuringen, sie auf wenigen Kubikmetern zu bezwingen. Um meinen Körper herum eine Polyesterhülle zu ziehen, in der es – komme was wolle- warm und trocken bleiben würde. Wetter draußen, drinnen der Mensch. Wie Ufos oder Landekapseln erschienen mir nun jene bunten Zelte aus den Outdoorgeschäften, die man sicher bei einer Extremtour zum Überleben brauchte, die mir aber den Wunsch suggerierten, immer ein absolutes Refugium zu garantieren in dem kein Insekt, kein unerwünschter Tropfen und kein Windhauch hineinkäme und die man überall in der Landschaft platzieren könnte um sich von ihr zu isolieren. Mit der Macht des Feuers und der Geduld der Wolle hingegen brauchte es die durch eine Reißverschluss gezogene Grenze nicht. Ich fühlte mich den Elementen näher. Spürte, dass wir sie an uns ranließen und dafür von ihnen akzeptiert wurden. Wir spürten ihre Macht und hatten aufgegeben, das Wasser abzuhalten. Das Feuer hatte es dann wieder der Luft zugeführt und wir konnten uns entspannt auf die Erde legen. Solche Kleidung und Ausrüstung ist Outdoorequipment, die diese Erfahrungen der Zugehörigkeit in der Natur bescherten. Wissen über zweckmäßiges Verhalten und Techniken der Anpassung gehörten dazu und waren noch reichlich zu erwerben. Demut und Respekt erfüllten mich und sie beeindruckten mich mehr als die Versuche, eine wilde Natur bezwingen zu wollen.
Das wären Beispiele dafür, wie das Draußensein meine Bekleidung und meinen Blick auf Kleidung geändert haben. Auch die ästhetische Dimension ist davon berührt. Nicht weil ein Wollhemd meist schöner ist als eine Softshelljacke und ganz sicher schöner altert, was in einem Mann in seinen mittleren Jahren schon alleine Sympathie und Respekt abringt. Mode funktioniert ja immer über die Assoziationen und Zuschreibungen, die hinter dem Auge des Betrachters mit den Stoffteilen verknüpft werden und die abzufärben versprechen auf ihren Träger oder Trägerin. Ein Wollhemd verweist immer auf das im Freien gespaltene Holz, welches erstere problemlos zu trocknen vermag, wenn es verfeuert wird. Und mein eigenes erinnert mich an die Krähenbeerensträucher, auf denen es ausgebreitet Sonne einfing um nach dem Bad im absurd kalten Fjällsee dem Körper das Gefühl der Gebundenheit zurückzugeben. Darin liegt auch eine ästhetische Dimension neben der intersubjektiv nachvollziehbaren Geschmacksbezeugung für griffige Overshirtschnitte, die seit ein paar Jahren auch in der Alltagsmode mitreden.

Auch diesen Trend kann ich sehr gut nachvollziehen. Ziehe ich einzelne Teile meiner Outdoorgarderobe an, wenn ich nicht in den Wald, sondern zur Arbeit oder sonstwohin gehe, dann nehme ich ein Stück der Erfahrungen und Gefühlswelten dorthin mit. Das kann einen Ausgleich schaffen zwischen formellen Anlässen der Drinnenwelt und der eigenen inneren Verortung in Wald und Wiese. Es kann ein Zeichen setzen und Kommunikation sein oder ein Talisman, wenn es eine unsichtbar liegende untere Zwiebelschicht ist. Wenn man das Merinoshort mit Bergmotiv unter dem Popelinehemd im Einreiher trägt spannt sich der Oberkörper anders, als unter dem Feinripphemd. Trekkingschuhe unter dem Konferenztisch leiten nach meiner Erfahrung die Spannungen besser in den Boden als Ledersohlen. Und langweilige Meetings kratzen weniger am Selbstwertgefühl, wenn ein in der Außenwelt bewährtes Kleidungsstück Halt und ein Versprechen auf die baldige Flucht nach draußen gibt.